Im letzten Beitrag bezogen wir uns auf psychische Manipulation im Bereich Politik / Medien.
Auch in der Literatur lassen sich Beispiele für psychische Manipulation finden: In „Der Verehrer“ von Charlotte Link realisiert eine Frau nach und nach, dass sie sich in einer sehr ungesunden Konstellation befindet. Mit verheerenden Folgen…
Charlotte Link ist mit diesem Buch ein Meisterwerk gelungen. Anhand der nachfolgenden Systematik und Ausschnitte aus dem wirklich sehr aufschlussreichen Thriller „Der Verehrer“ möchte ich aufzeigen, wie gut dieses Buch psychische Manipulation abbildet, wie sie auch anhand der Makro-Prozesse in Exit Gaslighting beschrieben sind.
Vorgeschichte, Annäherung und erste Selbstentfremdung
Der ahnungslosen Leona zieht es in „Der Verehrer“ den Boden unter den Füßen weg, als ihr Mann und bester Freund ihr die der Beziehung zu einer anderen Frau beichtet und die Trennung vollzieht. Am Boden zerstört blickt sie auf die Trümmer ihres Lebens. Ihr Selbstwertgefühl ist bei Null. Labil, orientierungslos und gefangen in einem Gefühlsstrudel von Trauer, Hoffnungslosigkeit und Wut, trifft sie zufällig auf Robert.
Seine imposante Erscheinung gepaart mit seiner einfühlsamen, unaufdringlichen und individuell-verrückten Art bezaubern sie (siehe 1. Makroprozess von Gaslighting und in diesem Beitrag).
Er zeigt Verständnis und gibt ihr durch zahlreiche Komplimente klar zu verstehen, dass er sie will. Leona hat das Gefühl, mit Robert alles zurückliegende hinter sich zu lassen. Das Schwere, Traurige, die Kränkung – alles verliert an Bedeutung. Mit Robert fühlt sich sich begehrt, schön, besonders und „erwählt“. Ihr bisher auf dem Nullpunkt befindlicher Selbstwert schießt in die Höhe, sie erlebt einen Dopamin-Flash.
Nach ersten, seltsamen Zwischenfällen kämpft Leona ihre intuitive Ahnung nieder („Da stimmt doch was nicht!“). Sie beginnt sogar, sich die Bedeutung dieser Ereignisse auszureden, um – Robert (und damit ihr Gefühl) nicht zu verlieren.
Leser des Buches Exit Gaslighting wissen, dass damit der Nährboden gelegt ist. Denn psychische Manipulation & Gaslighting greifen, wenn der Empfänger den Kontakt zu seiner Realitätswahrnehmung nach und nach verliert. Im Roman findet so die erste Selbstentfremdung statt.
Intensive Gefühle und erste Kontakte mit der Schmerzgrenze
Trotz einiger seltsamer Ereignisse und Phasen ohne Kontakt (Ghosting) zieht Robert nach kurzer Zeit bei Leona ein. Intensive Gefühle erlebt Leona nicht nur, wenn sie mit Robert körperlich ist. Vielmehr legt Robert ihr die Welt zu Füßen, lernt ihre Familie kennen und macht in Worten und Taten deutlich, wie sehr er sie will. Als er ihr einen Ring an den Finger steckt, erlebt sie einen Widerstreit der Gefühle: Einerseits löst seine bedingungslose Hingabe positive Gefühle aus (Sicherheit, Verlässlichkeit, Geborgenheit, begehrt sein), aber sie spürt auch das Unbehagen, durch den dahinter befindlichen Besitzanspruch von Robert. Dass psychische Manipulation stattfindet, realisiert Leona hier noch nicht.
Bei Robert beginnen sich die Phasen des „weichen, hingebungsvollen“ Verständnisses (wenn alles nach seinen Vorstellungen läuft) mit solchen abzuwechseln, in denen er völlig unangemessen, vorwurfsvoll-verletzend und mitunter latent bedrohlich reagiert. Leona macht erste Erfahrungen mit der Schmerzgrenze: Immer dann, wenn sie aus ihrer Wahrnehmung etwas äußert, das Robert´s Logik und Selbstbild widerspricht, reagiert er impulsiv, aufbrausend, angreifend.
Nachfolgender Ausschnitt aus „Der Verehrer“ startet in dem Moment, als die beiden in Robert´s Wohnung in Ascona ankommen. Leona findet sich inmitten einer verwahrlosten und ekelauslösend verschmutzten Wohnung. Im nachfolgenden Dialog sehen wir die einsetzende Unterwürfigkeit von Leona und den Kommunikationsstil von Robert:
R: „Gut, pass auf, ich hole jetzt unser Gepäck herauf und dann gehen wir gleich an den See, und ich zeige dir die Altstadt und…“
L: „Wir sollten hier erst einmal etwas aufräumen, findest du nicht?“
R: „Das hat doch noch Zeit.“
L: „Heute abend sind wir dann zu müde. Lass es uns hinter uns bringen.“
Er verzog das Gesicht und sah dabei aus wie ein trotziges Kind. R: „Jetzt sei doch nicht so spießig, Leona! Die Sonne scheint! Ich habe Lust, am See zu sitzen und ein Glas Wein zu trinken. Und du willst aufräumen!“
L: „Schau mal, wir können ja heute abend nicht einmal unsere Betten herunterklappen, so wie es jetzt aussieht! Und es ist so… ungemütlich.“
Schmollend schob er die Unterlippe vor. R: „Es gefällt dir hier nicht, oder? Du hast etwas Prächtiges erwartet, stimmt´s? Ein Zehn-Zimmer-Appartement mit Dachgarten oder etwas Ähnliches!“
L: „Das ist doch Blödsinn. Ich kann allerdings im Moment wirklich nur schwer feststellen, ob mir diese Wohnung gefällt oder nicht, weil ich den Eindruck habe, auf einer Müllhalde gelandet zu sein. Aber das lässt sich schließlich in Ordnung bringen.“
Sie hatte den letzten Satz in einem bittenden, versöhnlichen Ton gesagt, erkannte aber an seinem Gesichtsausdruck, dass sie damit nicht zu ihm vordrang. Inzwischen wusste sie diese eigentümliche Starre in seinen Augen zu deuten.
O nein, dachte sie, bitte nicht. Keinen Streit gleich am ersten Tag! Es sollte doch ein schöner Urlaub werden.
L: „Ich habe eine Idee“, sagte sie betont heiter, „Ich bringe das hier allein in Ordnung. Wahrscheinlich geht es dann sowieso schneller. Du schaust dich so lange ein bisschen in Ascona um, und später holst du mich zum Abendessen ab, okay? Sicher hast du irgendein Lieblingsrestaurant, in das du am ersten Abend gern gehen würdest.“
Du bist eine Idiotin, sagte eine innere Stimme zu ihr, raspelst hier Süßholz und bietest dich an, die Drecksarbeit zu machen, während der hohe Herr ein wenig in der Sonne am See entlangschlendert. Es wäre seine verdammte Sache, hier den Saustall zu beseitigen! Du legst genau diese blödsinnige Harmoniesucht an den Tag, die dich zur Unterwürfigkeit verleitet und schwach macht!
Aber sie wollte diese Stimme jetzt nicht hören. Sie wollte jetzt keine Auseinandersetzung, sie war müde von der Fahrt, sie sehnte sich nach einer erfrischenden Dusche, nach Ruhe, danach hier Ordnung zu schaffen, um sich wohl fühlen zu können. Sie sehnte sich, wie sie erstaunt erkannte, sogar danach, für eine Weile allein zu sein.
R: „Also wenn du lieber hier die Putzfrau spielst, als dir Ascona anzuschauen, dann ist dir nicht zu helfen.“ Er klang wütend: „Ich gehe jedenfalls etwas trinken. Es war nie meine Absicht, dich zu meiner Haushälterin zu machen, aber wenn du unbedingt eine sein willst – bitte sehr! Bloß beschwere dich nachher nicht!“
Damit rauschte er hinaus und schlug die Wohnungstür hinter sich zu. Leona ließ sich auf einen Fußschemel sinken und stütze den Kopf in die Hände. Die erste gemeinsame Reise fing höchst vielversprechend an.
Der innere Widerstreit in Leona ist sehr gut abgebildet! Sie weiß, dass es nicht echt und gut ist, was sie tut. Sie zuckt vor der Schmerzgrenze in die Unterwürfigkeit zurück, obwohl sie ihre innere Stimme hört, entscheidet sie, diese auszublenden. Gleichzeitig erkennen wir auch, dass es keine Rolle spielt, was sie wie sagt – Robert zieht sein Ding durch und glaubt, ein Anrecht auf seine Wut zu haben, im Recht zu sein. Später revidiert er all dies mit einem Blumenstrauß und gibt sich als armes Opfer seiner eigenen Emotionalität (im Buch als „hilfloser Täter“ beschrieben): „Was soll ich denn noch machen, dass du mir verzeihst?“
Dennoch ist Leona sich auch an dieser Stelle noch nicht darüber klar, dass psychische Manipulation stattfindet.
Leser des Buches Exit Gaslighting dürften hier den 2. Makroprozess erkennen, der bereits in den 3. übergeht.
Indem sich Leona ihre eigene Wahrnehmung ausredet, sich phasenweise im Monolog der inneren Beweisführung selbst als hysterisch und empfindlich bezeichnet, übernimmt sie Robert´s Bewertungen immer mehr in ihr System und befindet sich damit auf dem besten Weg in den 3. und 4. Makroprozess.
Psychische Manipulation wird bewusst | Distanzierung & Bedrohung
Als die beiden nach einem äußerst bedrohlichen, impulsiven Ausbruch von Robert (bei dem Leona um ihr Leben fürchtete) in einem Eiscafé sitzen, wird Leona sich allmählich über die psychische Manipulation bewusst. Sie spürt im nachfolgenden, auszugsweisen Abschnitt, die reale Distanz zwischen ihr und Robert – und die Bedrohung, die von ihm ausgeht:
R: „Dein Eis schmilzt. Willst du nicht anfangen zu essen?“
L: „Ich habe gesagt, ich möchte kein Eis. Wenn du es trotzdem bestellst, musst du es eben alleine essen.“
R: „Ich habe ja schon meines gegessen. Willst du, dass ich platze?“ […]
Leona fällt darauf in Schweigen und betrachtet die Landschaft, während sie ihren Gedanken nachhängt.
[…]
R: „Mea culpa! Was soll ich noch tun? Willst du dich in dein Gekränktsein einhüllen für den Rest unseres Urlaubs?“
L: „Ich weiß gar nicht, ob ich diesen Urlaub noch machen will.“
R: „Leona, sei mir nicht böse, aber du bist wirklich die am schnellsten eingeschnappte Frau, die ich je kennengelernt habe. Gut, vielleicht verhalte ich mich manchmal auch zu ungeduldig und aufbrausend, aber ich entschuldige mich immer und…“
L: „…und schenkst mir Blumen oder drängst mir Eisbecher auf, die ich gar nicht will. Aber merkst du denn gar nicht, wie sich diese Vorfälle häufen? Deine Ausbrüche, deine Entschuldigungen, meine Verrenkungen, mir dein Verhalten zu erklären und es schließlich zu verzeihen… Allmählich bestimmt das alles ja die Tagesordnung bei uns!“
R: „Du bauschst das auf! Ich habe gesagt, dass es mir leid tut, und…“
L: „Robert! Wie du dich gestern verhalten hast, das war nicht mehr normal. Bei allem Verständnis… aber so vollkommen die Kontrolle zu verlieren… das kann niemand mehr nachvollziehen.“
R: „Kontrolle verlieren… kannst du mir sagen, warum du immer alles so schrecklich dramatisieren musst? Was habe ich denn getan? Habe ich dich geschlagen? Dich sonst irgendwie verletzt?“
L: „Nein. Aber ich dachte…“
R: „Du dachtest! Du hast eine blühende Phantasie, Leona, das muss ich schon sagen. Du bildest dir immer irgendwelche Dinge ein, und nachher stellst du mich als ein unbeherrschtes Monster hin!“
Sie erwiderte nichts, erkannte aber mit steigendem Zorn seine einfache Taktik, mit der er jedes mal die Dinge zu seinen Gunsten verdrehte.
Er war der „große Junge“, temperamentvoll und manchmal etwas ausufernd, aber natürlich war ihm nie ein ernsthaftes Fehlverhalten vorzuwerfen. Sie zickte herum, machte aus jeder Mücke einen Elefanten und spielte ständig den gekränkten Ankläger.
In diesem Abschnitt hat Charlotte Link eine Meisterleistung vollbracht – sie transportiert in Bildern, Stimmungen und Worten genau das aus, was bei Gaslighting wiederholt geschieht.
Leona realisiert die psychische Manipulation und geht hierzu auf Distanz. Sie vereinigt sich wieder mit ihrer Wahrnehmung. Zunehmend wird ihr bewusst, dass sie mit Robert gewisse Dinge niemals klären können wird.
Müde und erschöpft beschließt sie die Trennung, die sie noch im selben Urlaub vollzieht, als sie von einer erschreckenden Lüge erfährt, mit der sie Robert konfrontiert. Damit ist die Geschichte nicht zuende, sondern geht in die finale Phase, die das Buch zum Psychothriller werden lässt.
Charlotte Link schafft Beispiele für psychische Manipulation
Auch wenn das Buch „Der Verehrer“ ein Psychothriller ist und sich der Ausgang nicht allzu sehr für Vergleiche eignet, ist es Charlotte Link dennoch auf eindrucksvolle Weise gelungen, psychische Manipulation und die Makro-Prozesse von Gaslighting abzubilden.
Der Roman bleibt dabei nicht einseitig in der Darstellung der Winkelzüge des Senders stecken, sondern bildet auch die innere Entwicklung auf Empfängerseite ab: Zweifel, Selbstverleugung, Rationalisierung, Beschwichtigung und der Monolog der inneren Beweisführung werden greifbar. Wertvoll deswegen, weil psychische Manipulation kein einseitiges Geschehen ist!
Abgesehen vom Ausgang der Geschichte, dürften viele Menschen einen solchen Verlauf in ähnlicher Weise erlebt haben und wieder erkennen. Charlotte Link schafft mit der „Der Verehrer“ Beispiele, konkrete Szenen für psychische Manipulation, die von Außen betrachtet und wirklich nachvollzogen werden können. Eine echte Empfehlung für all die Menschen, die Gaslighting erlebt haben und sich Beispiele wünschen, anhand derer die Mechanismen sichtbar werden.